Haltung gegenüber Prüfungen

Prüfungen sind ein wichtiger Teil des Studiums, aber wie stehen Studierende und Lehrende zu ihnen? Wie können Prüfungen authentische Leistungen fördern und akademisches Fehlverhalten vermeiden? Wie kann die Chancengleichheit und Fairness bei Prüfungen gewährleistet werden? Und welche Rolle spielt die Haltung von Studierenden und Lehrenden zu Prüfungen?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Arbeitspakets 3 „Haltung“, das von der Hochschule Neu-Ulm und der Technischen Hochschule Augsburg im ii.oo Projekt bearbeitet wird. Das Ziel ist es, eine Haltungsänderung bei Studierenden und Lehrenden zu Prüfungen zu bewirken, die im Sinne des selbstregulierenden Lernens und über Reflexion der eigenen Befähigung geschieht. Dabei sollen die Motivation zur Selbst- und Fremdtäuschung vermindert werden.
In nebenstehendem kurzem Screencast erfahren Sie mehr über das Arbeitspaket Haltung, seine Ziele, Methoden und Erkenntnisse. Schauen Sie rein und lassen Sie sich inspirieren!
Um diese Ziele zu erreichen, hat das Haltungs-Team eine theoretische Einordnung des Begriffs Haltung vorgenommen und Thesen zu den Faktoren formuliert, die die Haltung von Studierenden und Lehrenden zu Prüfungen beeinflussen. Diese Thesen wurden mithilfe leitfadengestützter, problemzentrierter Interviews überprüft, an denen sich rund 40 Lehrende und Studierende der Hochschule Neu-Ulm und der Technischen Hochschule Augsburg beteiligten.
Das Ergebnis ist eine Typologie mit jeweils vier Lehrenden- und Studierendentypen, die zentrale Handlungs- und Haltungsmuster differenziert abbildet.
Lehrendentypen
Typ 1Der (beziehungsorientierte) Lernbegleiter
Der beziehungsorientierte Lernbegleiter versteht sich als Partner auf Augenhöhe. Er schafft eine transparente, unterstützende Lernumgebung, in der Studierende kompetent und selbstwirksam agieren können. Schummeln wird nicht unterstellt, Vertrauen steht im Mittelpunkt. Studierende werden aktiv eingebunden, Aufgaben und Bewertungskriterien sind klar und nachvollziehbar. Rückmeldungen werden gegeben und ernst genommen, Lernprozesse sind dialogisch gestaltet. Prüfungen dienen der Entwicklung, Ängste sollen abgebaut und Formate in den Lernprozess integriert werden. Digitale Tools und KI werden reflektiert eingesetzt, als Lernhilfe unter didaktischer Anleitung. Studierende erhalten hierbei Übungsmöglichkeiten und Unterstützung. Authentische Leistungen entstehen durch Autonomie, soziale Eingebundenheit und Selbstwirksamkeit. Die Rolle als Lernbegleiter ist verinnerlicht, Fairness, Transparenz und Feedback sind zentrale Werkzeuge. Weiterentwicklung und kollegialer Austausch sind erwünscht.
Typ 2Der (ambivalente) Engagierte
Der ambivalent Engagierte möchte gute Lehre machen und Studierende fair begleiten, erlebt dabei aber Spannungen zwischen Anspruch und Rahmenbedingungen, etwa Zeitdruck, Vorgaben oder institutioneller Unsicherheit. Die Motivation und Reflexion sind stark, doch Selbstzweifel bremsen. Dieser Typ findet sich oft bei Neuberufenen oder Lehrbeauftragten mit wenig Unterstützung. Studierende erleben ihn als engagiert und offen, aber teils unklar oder kontrollierend. Transparenz und Feedback sind gewollt, werden aber nicht immer konsequent umgesetzt. Die Lernbegleiterrolle ist erkennbar, aber noch nicht stabil. Schummeln wird eher aus Unsicherheit skeptisch betrachtet. Der Wunsch nach fairen, lernförderlichen Prüfungen ist da, doch es fehlt oft Vertrauen in die eigene Gestaltungskompetenz. Digitale Formate und KI werden als Chance gesehen, zugleich als potenzielle Überforderung. Eigene Strategien fehlen meist, es wird auf bekannte, sichere Strukturen zurückgegriffen. Unterstützung durch die Hochschule ist hier besonders entscheidend.
Typ 3Der (strukturierte) Prüfungspragmatiker
Der Prüfungspragmatiker versteht Prüfungen als Leistungsmessung unter kontrollierten Bedingungen. Rechtssicherheit, Verlässlichkeit und klare Abläufe sind zentral. Die Beziehung zu Studierenden bleibt professionell-distanziert, aber wertschätzend. Lernbegleitung oder soziale Einbettung treten hinter dem Anspruch zurück, gleiche Bedingungen zu gewährleisten. Lehrende dieses Typs setzen auf Transparenz, klare Regeln und formelle Gleichbehandlung. Prüfungen sind standardisiert, Anforderungen eindeutig formuliert. Offene oder unbeaufsichtigte Formate gelten als riskant, weil sie Täuschung erleichtern könnten. Digitale Prüfungen werden nur genutzt, wenn sie rechtlich abgesichert sind und einen klaren Nutzen bringen, etwa automatisierte Korrekturen. KI erscheint als Risiko, weniger als Chance. Authentische Leistungen entstehen hier durch Struktur und Transparenz, nicht durch Selbstbestimmung oder soziale Eingebundenheit. Fairness heißt Gleichbehandlung. Die Schummelgefahr gilt als gegeben und eine Absicherung daher als Pflicht.
Typ 4Der (systemkritische) Visionär
Diese Lehrperson denkt Lehre nicht nur im Hörsaal, sondern immer auch im gesellschaftlichen Kontext. Sie möchte Bildung aktiv mitgestalten, Prüfungen neu denken und bestehende Strukturen verändern. Der Blick richtet sich darauf, was Studierende wirklich brauchen, um lernen, wachsen und sich entfalten zu können. Systemkritische Visionäre bringen sich engagiert in Veränderungsprozesse ein, etwa in Gremien, Projekten oder hochschuldidaktischen Debatten. Sie regen Reformen an, setzen Impulse und nehmen strukturelle Hürden in den Blick, die Studierenden das Lernen erschweren. Gleichzeitig kennen sie Momente von Frust oder Desillusion. Dieser Typ ergänzt die Thesen um eine strukturelle Perspektive. Schummeln wird nicht als individuelles Fehlverhalten verstanden, sondern als Symptom eines Systems. Prüfungen sind aus dieser Sicht nicht nur formale Pflicht, sondern ein Spiegel dessen, wie mit Studierenden umgegangen wird. Prüfungen werden als Teil eines umfassenden Bildungskonzepts verstanden. Sie sollen Lernprozesse unterstützen statt sie zu behindern. Digitale Formate und KI-gestützte Tools begreift der systemkritische Visionär als Chance zur Transformation, nicht als Bedrohung.
Studierendentypen
Typ 1Der (systematisch) Lernfokussierte
Studierende dieses Typs handeln planvoll, reflektiert und nutzen selbstgesteuertes Lernen effizient. Sie greifen vorhandene Informationen und Feedbackstrukturen gezielt auf und sehen Prüfungen als legitime Rückmeldung zum persönlichen Lernstand. Hohe Selbstwirksamkeit, Motivation und ein ausgeprägter Sinn für Transparenz prägen ihr Lernen. Klare Anforderungen und strukturierte Lernumgebungen ermöglichen authentische Leistungen. Chancengleichheit und Fairness sind zentrale Bezugspunkte, Ängste kaum vorhanden, Prüfungen fördern Aktivität statt Blockade. Lehrkräfte sollen Rahmenbedingungen klar kommunizieren und aktiv als Lernbegleiter:innen unterstützen. Studierende diesen Typs bringen ihr Feedback ein und schätzen eine begleitete Gestaltung der Prüfungen. Digitale Formate und Tools werden gezielt eingesetzt, um Lernprozesse effizient zu unterstützen. Prüfungen gelten als gerecht, wenn sie transparent, nachvollziehbar und methodisch durchdacht sind. Schummeln wird strikt abgelehnt, Vertrauen in die eigenen Leistungen steht im Vordergrund.
Typ 2Der (pragmatische) Taktiker
Der pragmatische Taktiker geht zielgerichtet mit Leistungsanforderungen um und entwickelt Strategien, um trotz Überforderung handlungsfähig zu bleiben. Prüfungen werden weniger als Lernanlass, sondern primär als Hürde wahrgenommen. Bei mangelnder Transparenz, hohem Zeitdruck oder fehlender Unterstützung denkt er auch über unerlaubte Strategien wie Schummeln nach, nutzt sie aber meist nicht aktiv – er ist ein „theoretischer Schummler“. Motivation entsteht aus dem Bedürfnis, Anforderungen effizient zu bewältigen, oft unter schwierigen Rahmenbedingungen. Authentische Leistung steht nicht im Vordergrund – Prüfungen sind Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Stress und Zeitdruck sind hoch ausgeprägt, Fairness wird als entscheidend wahrgenommen. Lernprozesse sind zweckrational, digitale Formate und Tools können zur Effizienz beitragen, werden aber situativ eingesetzt. Die Bindung an eigene Leistungsideale ist schwach, Schummeln wird als mögliche Strategie im Systemgedanken reflektiert.
Typ 3Der (empathische) Entwicklungspartner
Studierende dieses Typs verstehen Lernen als Beziehungs- und Dialogprozess, in dem Wertschätzung und Rückmeldung zentral sind. Ihre Motivation entsteht aus Zugehörigkeit und dem Gefühl, gemeinsam mit Lehrenden am Lernerfolg zu arbeiten. Prüfungen werden nicht nur als Bewertung, sondern als kommunikative Rückmeldung im kooperativen Lernverhältnis wahrgenommen. Der Entwicklungspartner orientiert sich an einer ko-konstruktiven Lernbeziehung, bei der persönliche Entwicklung, soziale Eingebundenheit und gegenseitige Verantwortung im Mittelpunkt stehen. Vertrauen, Dialog und Resonanz treiben das Lernen an, die Lehrperson gilt oft als Vorbild. Leistung wird als gemeinsame Aufgabe gesehen, Transparenz und Feedback sind hoch relevant. Schummeln kommt nicht in Frage, das Risiko für Beziehungs- und Vertrauensverlust ist zu hoch. Lehrveranstaltungsgestaltung, Kommunikation und Interaktion auf Augenhöhe sind entscheidend. Die Lehrperson wird als Lernbegleiter:in wahrgenommen. Authentische Leistung, Fairness im Beziehungserleben und Resilienz gegenüber Schummeloptionen sind ausgeprägt.
Typ 3Der (skeptische) Prüfungsbewältiger
Dieser Typ empfindet digitale Prüfungsformate als potenziell überfordernd. Unsicherheiten bestehen bezüglich technischer Stabilität, Anforderungen, Fairness und eigener Fähigkeiten. Kompensatorische Strategien wie Prüfung schieben, Schummeln oder „auf Glück hoffen“ treten bei wahrgenommenem Mangel auf. Der Typ ist problem- statt lösungsorientiert, mit geringer Prüfungszuversicht und fehlendem Vertrauen in transparente Strukturen. Prüfungen erscheinen als Bedrohung, nicht als Lernchance. Das Vertrauen in Chancengleichheit ist gering, institutionelle Praktiken werden kritisch gesehen. Die Bewältigungsstrategien dieses Typs sind reaktiv, Ängste und Stress hoch. Prüfungen wirken potenziell manipulativ und leistungsfeindlich, Frustration führt zu Rückzug oder stillem Protest. Digitale Formate werden nicht als Erleichterung wahrgenommen, sondern als Unsicherheitsquelle, etwa durch Kontrollverlust, technische Modalitäten oder wahrgenommene Ungerechtigkeit. Schummeln wird als Misstrauensreaktion genutzt, Fairness als individuell schwer erreichbar gesehen. Authentische Leistung gelingt nur eingeschränkt, Prüfungen werden bei wahrgenommenem Mangel als unfair erlebt.
